Monika Machnicki: Paradiesisch-Die anständige und die unanständige Lust, in Kat. Sonja Alhäuser – Hartgesotten, Hrsg. Annett Reckert, Städtische Galerie Delmenhorst, 2010.

Paradiesisch – das hartgekochte Wunderland der Sonja Alhäuser

Sprechen wir heute – im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends – über Essen, so werden in aller Regel zwei Linien verfolgt. Die eine fährt entlang einer Assoziationskette, die mit den Begriffen Genuss, Verfeinerung, Opulenz und Kulinarik arbeitet. Da treffen sich die Connaisseurs: man tauscht sich aus über Wein und Vintage-Whiskeys, Schokolade-Editionen, das beste Messer zur Zubereitung von Speisen oder Kochkurse beim Edelkoch. Die andere Linie handelt vom gesunden Essen – die Nahrungsmittelskandale vom Gammelfleisch bis zum Verbraucherbetrug mit Analogkäse haben ihre Spuren hinterlassen. Die Dicken in den Industrieländern werden immer dicker, gleichzeitig boomt das Geschäft mit Schlankheitsmitteln der unterschiedlichsten Art. Das Verzehren von Speisen auf der Straße hat sich etabliert, aber die Energie-Bilanz bleibt trotz der Bewegung dabei unausgewogen. Das schnelle und vor allem weiche „Futter“ zeitigt dauerhafte Spuren am Körper. Jeder isst für sich allein, aber die Medien singen das Hohe Lied der gemeinsamen Mahlzeit als kulturelle Handlung.

Der Mensch – der kochende Affe?

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Diskutiert werden der aufrechte Gang und der Verlust des Haarkleides. Anthropologen und Paläontologen wie Richard Wrangham setzen heute den Zeitpunkt der Menschwerdung mit der Beherrschung des Feuers und der Erfindung des Kochens an – vor 1,9 bis 1,8 Millionen von Jahren, als homo erectus, der Vorgänger des modernen Menschen, auf den Plan trat. Die Erfindung des Kochens habe die Evolution von homo sapiens befördert, weil durch das Kochen pflanzliche und fleischliche Nahrung hochwertiger, weil leichter verdaulich wird. Durch die quasi „vorverdaute“ Nahrung wird weniger Zeit für die Nahrungsaufnahme und die Verdauung benötigt, weniger Unverdautes ausgeschieden. Dadurch konnte im Laufe der Evolution der Verdauungsapparat verkleinert und die eingesparte Energie in die Entwicklung eines größeren Hirnvolumens investiert werden, das immerhin 20% der gesamten Energiezufuhr für sich beansprucht. Kochen tötet Krankheitserreger ab, lässt Gifte zerfallen und hat eine konservierende Wirkung. Der Aktionsradius des aufrecht gehenden Menschen vergrößerte sich dadurch, dass er gegarte oder am Feuer getrocknete Nahrung mitnehmen konnte. Am Feuer konnte er sich wärmen, so dass das sukzessive Ablegen des Haarkleides in Verbindung mit dem aufrechten Gang aus dem Affen den an seine veränderte Umwelt gut angepassten, leistungsfähigen Savannenläufer machte. Das Lagerfeuer bot nicht nur Schutz und Wärme vor nächtlich umherstreifenden Beutegreifern, sondern kann als Keimzelle sozialen Verhaltens angesehen werden. Durch die körperliche Nähe bei der Nahrungsaufnahme mussten sich Regeln und Rituale ausbilden, die diese die Evolution des Menschen treibenden Vorteile sozial verankerten und befestigten. Wrangham macht die Beherrschung des Feuers und die Zubereitung warmer Mahlzeiten im Übrigen auch für die Geschlechtertrennung und die Zuweisung spezifisch männlicher und weiblicher Rollen verantwortlich. Während in einzelnen Kulturen die Trennung so weit geht, dass zwar die Frauen die Nahrung zubereiten, die Mahlzeit dann aber nach Geschlechtern getrennt verzehrt wird, zeigt die Kulturgeschichte, dass sich um das gemeinsame Essen eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Konventionen gebildet haben, an denen die soziale Hierarchie, die Bedeutung eines Individuums innerhalb einer Gruppe, die gegenseitigen Verpflichtungen und Abhängigkeiten abgelesen werden können. 

„Es gibt nichts Schöneres für mich als ein Fest“ (Sonja Alhäuser)

Rund um das Essen hat sich weiterhin eine Festkultur etabliert, die sich an persönlichen Lebensabschnitten wie Geburt, Hochzeit und Begräbnis, am jahreszeitlichen Überfluss z.B. bei Erntedankfeierlichkeiten, aber auch an der sozialen Repräsentation mit Zunftmahlzeiten und Herrscherbanketten orientiert. Auch für Sonja Alhäuser verknüpft sich Essen mit vielen Ritualen. Das, was sie zeichnet, baut, als Skulptur und Installation herstellt oder als Performance darbietet, ist ein Nachdenken über Rituale bei der Zubereitung von Speisen, Kochregeln, Tischsitten, festlichen Banketten und Schauessen, aber auch über die symbolischen Bezüge und Funktionen einzelner Speisen z.B. als Aphrodisiakum. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Entwicklung eigener Rituale, die mit den Vorstellungen von Fest und Festlichkeit spielen, diese einbeziehen, als künstlerische Aktion jedoch weit darüber hinausgehen. Alhäusers eigene Befindlichkeiten, Erfahrungen, ihr Wissen zum Beispiel um die Wirkung von Würz- und Heilkräutern fließen in ihr Werk ein. Aber darüber hinaus manifestiert sich darin auch ihr (bildhauerisches) Interesse an den Qualitäten der von ihr gewählten Materialien wie Schokolade, Butter, Marzipan, den materialästhetischen und sensorischen Eigenschaften wie Glanz, Geruch, Fließverhalten. 

Ihre Zeichnungen kommen als Rezepte daher, bilden aber eigentlich Versuchsanordnungen ab, die von der Künstlerin ergebnisoffen begonnen werden und dann den Prozess reflektieren, in dessen Verlauf sie entstanden sind. Die Zeichnungen sind sowohl Notate von bereits Geschehenem, Entwickeltem als auch Handlungsanweisungen zu möglichen Performances und nicht zuletzt auch Anleitungen für Gerichte, die als Wiederholbares aufgezeichnet werden. Dieser Perspektivenwechsel unterscheidet ihr Werk von der Eat Art des „Nouveau Réalisme“ der sechziger Jahre, denn bei Sonja Alhäuser ist mehr Kalkül als Zufall und was bleibt, eignet sich wieder zum Prozessauftakt und ist nicht mit Klebstoff fixierte Erinnerung.

Mit dem Essen sind generell existentielle Fragen verknüpft. Nicht ohne Grund nennen wir Nahrungsmittel auch Lebensmittel, Mittel zum Leben und Überleben – und in unserer hedonistisch ausgerichteten Gesellschaft – auch Mittel zum Gut-Leben. In der Vorstellung vom Lebensmittel ist auch das Gegenteil impliziert: der Tod, den Sonja Alhäuser in ihren Werken auf die verschiedenste Art und Weise berührt. So wird deutlich, dass ein Stück Fleisch in der Sauce vorher ein lebendiges Wesen war, das nach den Regeln der Kochkunst erlegt, gehäutet , zerteilt, gekocht, gebraten, gesotten wird, bevor es auf der Tafel landet. Der Tod lauert am Ende jeden Lebens. Zubereitung und Aufnahme von Nahrung, Verdauung und Ausscheidung spiegeln im Werk von Sonja Alhäuser den großen Kreislauf von Werden und Vergehen. Formal steht sie hier in der Tradition der großen Bankettdarstellungen und Genrebilder des 15. und 16. Jahrhunderts, in denen existentielle Themen ebenfalls auf eine drastisch-prägnante Art und Weise geschildert werden. So sehen wir zum Beispiel in Daniel Hopfer, Das ländliche Fest, um 1500 einen solchen Kreislauf des Lebendigen: ein Festgast verrichtet seine Notdurft im Gemüsegarten, ein anderer – Sinnbild der Völlerei – übergibt sich, in einer Nebenszene im Bildhintergrund lagern schmusende Pärchen. In den Werken von Sonja Alhäuser erscheinen die Bilder vom Essen, von der Liebe und vom Tod jedoch ohne die für Renaissance und vor allem Barock zeittypischen moralischen und appellativen Anspielungen, auch wenn wir manches in Alhäusers Installationen und Zeichnungen als modernes Memento mori lesen können. Ihre Zeichnungen sind auch weniger erzählerisch als ablauforientiert – was sie mit Pfeilen oder sonstigen Richtungsanzeigern markiert und damit eine Ordnung oder Laufrichtung vorzugeben scheint, die manchmal an Explosionszeichnungen erinnert. Tatsächlich werden jedoch oft parallele Handlungen oder verschiedenen Handlungsstränge miteinander verwoben, sodass die entstandene Textur in verschiedenen Richtungen lesbar wird.

Deutsche Liebespaare gehen in die „Buntkarierten“, die französischen „in die Erdbeeren“.

Zum Essen, das heutzutage allgemein als anständige Lust bewertet wird, tritt die „unanständige Lust“, Eros und Sex. Gert von Paczensky und Anna Dünnebier erinnern in ihrer Kulturgeschichte des Essens und Trinkens daran, dass es Zeiten gab, wo es für die feinen Damen der Gesellschaft als unanständig galt, in der Öffentlichkeit zu kauen. Für diese wurden daher weiche Mousse-Variationen entwickelt. Der gleiche Autor enthüllt auch, dass unser Bild vom Schlaraffenland ein für die Kinderbücher gereinigtes ist. Ein französisches Gedicht aus dem 13. Jahrhundert von Fabliau vom Land Coquaigne (le pays de cocagne = Schlaraffenland) verbindet Schwelgerei mit sexuellen Genüssen. Und auch im Hohen Lied Salomos werden Essen, Trinken und die Liebe in der Weise mit einander verbunden, dass mit Bildern des Essen beschrieben wird, was die Liebenden zu tun wünschen. 

In der Geschichte von Kunst und Kulinarik gibt es verschiedentlich Gleichsetzungen zwischen der Tätigkeit des Architekten und Bildhauers mit der Tätigkeit des Kochs, am prägnantesten bei Antonin Carême in seinem Werk „Le pâtissier pittoresque“. An einer solchen Schnittstelle bewegt sich auch Sonja Alhäuser mit ihrem Werk aus Schokolade, Butter und Marzipan, Banketten aus Fisch und Fleischgerichten, Gemüse und Obst, die Skulptur und Bild geworden sind und als solches gewürdigt, alsdann zum Genuss freigegeben werden. Die Betrachter werden zu Handelnden, die den Kreislauf vollenden helfen. Eine Performance mit vertauschten Rollen, in der es zum schrittweisen Verfall eines barocken Bildes kommt, wie die Künstlerin selbst diesen Vorgang beschreibt.

Literatur:

Gerd von Paczensky, Anna Dünnebier: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, Orbis Verlag 1999

Richard Wrangham: Feuer fangen, Deutsche Verlags-Anstalt 2009

Kunstforum International Nr. 159, April – Mai 2002

Kunstforum International Nr. 160, Juni – Juli 2002